Ernährung im Wandel der Zeiten

Paleo - Fleisch, Fisch und Gemüse, vermutlich so ähnlich wie in der Steinzeit
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6 Minuten
Astrid Kurbjuweit

Die heutige Zeit ist geprägt von sich immer mehr verbreitendem Übergewicht. Das war nicht immer so. Da sich die Ernährungsgewohnheiten seit früheren Zeiten erheblich gewandelt haben, sehen viele die Ursache für das Übergewicht in einer Ernährung, die der Natur des Menschen, seiner genetischen Ausstattung nicht angepasst sei. Dieser Gedanke hat unter anderem zur Entwicklung einer Diätform, der Steinzeitdiät, geführt.

Die Idee dahinter ist, dass die Steinzeit den größten Zeitabschnitt in der Entwicklung der Menschheit ausgemacht hat. Dass die Zeit, die seither vergangen ist, zu kurz war, um unseren Metabolismus an die heute übliche Ernährung anzupassen. Kurz, dass wir immer noch mit einer Steinzeiternährung am besten fahren würden, damit auch unser Übergewicht in den Griff bekommen könnten.

Das kann sein. Allerdings gehen mit dieser Annahme einige Probleme einher. Zum einen wissen wir nicht so genau, was die Menschen in der Steinzeit wirklich gegessen haben. Wir können nur vermuten, dass da so einiges dabei war, was wir heute eher nicht essen möchten. Zum anderen fällt diese Zeit zusammen mit der Ausbreitung des Menschen über die ganze Erde, über alle Klimazonen und Kontinente, was also sehr unterschiedliche Ernährungsarten mit sich gebracht haben muss. Das war nur möglich, weil der Mensch ein Allesfresser (Omnivore) ist, der eben nicht auf eine bestimmte Ernährungsform angewiesen ist, sondern eine bemerkenswerte Flexibilität aufweist, was seine Möglichkeiten der Ernährung angeht. Welches ist jetzt „die“ Ernährungsform der Steinzeit? Wir wissen es nicht, wir können nur Vermutungen aufstellen. Zu diesen Vermutungen gehört, dass steinzeitliche Ernährung und steinzeitliche Lebensweise untrennbar miteinander verbunden waren. Die Menschen waren Jäger und Sammler, das geht nicht vom Fernsehsessel aus, auch nicht vom Bürostuhl.

Und irgendwie waren sie mit dieser Lebensweise auch nicht hundertprozentig glücklich, denn vor ca. 12.000 Jahren begannen die Menschen, nach und nach sesshaft zu werden. Das hatte Folgen, auch für die Ernährung. Als Jäger und Sammler kann man nicht über längere Zeit am selben Ort leben, das geht nur mit Ackerbau. Mit der Entwicklung von Ackerbau und Viehzucht veränderte sich die Ernährung der Menschen radikal, Getreide wurde nach und nach zu einem Hauptlebensmittel, aber auch Milch gewann einen immer größeren Stellenwert. In dem Zusammenhang bemerkenswert ist, dass die meisten heutigen Menschen Träger einer genetischen Mutation sind, die es ihnen ermöglicht, auch als Erwachsene den Milchzucker zu verdauen. Offensichtlich waren die Milchtrinker derartig erfolgreich, dass sie alle anderen innerhalb kurzer Zeit verdrängt hatten. Wir sind also sehr wohl, zumindest teilweise, genetisch an eine nachsteinzeitliche Ernährung angepasst. Gleichzeitig wurden für die meisten erst mit der Sesshaftigkeit tierische Fette in nennenswertem Umfang verfügbar. Wild hat kaum Fett, ausgenommen in extrem kalten Gebieten.

Der Übergang zur sesshaften Lebensweise mit Ackerbau und Viehzucht wird auch als Neolithische Revolution bezeichnet. Das aus dieser Revolution resultierende Lebensmodell war so erfolgreich, dass es bald die Jäger und Sammler verdrängte. Feste Häuser ermöglichten Vorratshaltung, machten es leichter, den Winter zu überleben. Die Zahl der Menschen stieg deutlich an.

Jahrtausendelang waren die jetzt sesshaften Getreideesser und Milchtrinker nicht übergewichtig. Es kann also vermutet werden, dass weder Getreide noch Milch die Ursache für die heutige Verbreitung des Übergewichts sind. Auch tierische Fette können kaum die alleinige Ursache sein.

Seit der Erfindung der Sesshaftigkeit hat sich unsere Lebensweise, auch unsere Ernährung jedoch noch in vielerlei Weise geändert. Allerdings wohl erst in den letzten 50 bis 100 Jahren so, dass es verbreitet zu Übergewicht kommen kann. Vielleicht ist es auch erst seit 20 Jahren so. Jedenfalls ist Übergewicht, aus der Sicht der Evolution, absolut neu. Noch vor wenigen Jahren war es überhaupt nur wenigen Privilegierten möglich, übergewichtig zu werden. Infolgedessen hat sich die Bewertung eines hohen Körpergewichts von einem Statussymbol hin zu einem Makel verändert.

Was ist heute anders?

Ernährung und Lebensweise sind untrennbar miteinander verbunden. Von daher ist es nicht zielführend, die Ursachen für das verbreitete Übergewicht ausschließlich in der Ernährung, oder sogar nur in einem einzigen Bestandteil der Ernährung zu suchen. Jede monokausale Erklärung wird mit hoher Wahrscheinlichkeit zu kurz greifen.

Auch heute noch ist der Mensch ein Allesfresser. Absolut neu ist allerdings die Tatsache, dass er auch jeden Tag aus allem oder zumindest fast allem auswählen kann. Sowohl regionale als auch jahreszeitliche Einschränkungen sind weitgehend aufgehoben. Einige Lebensmittel sind auch seit der Steinzeit weitgehend in Vergessenheit geraten. So isst heute kaum noch jemand Insekten oder Würmer. Schlachttiere werden heute nicht mehr vollständig verwertet, vieles endet als Hundefutter oder wird schlicht zu Abfall. Es ist wenig wahrscheinlich, dass die Steinzeitmenschen von ihrer mühsam ergatterten Jagdbeute nur die Steaks und Keulen gegessen und den Rest liegen gelassen haben. Auch bei der pflanzlichen Nahrung ist eine Veränderung der Auswahl zu beobachten. Wildgemüse wie Sauerampfer zum Beispiel wird heute kaum noch gegessen.

Wie seit 10.000 Jahren, so ist auch heute noch Getreide ein Hauptnahrungsmittel. Allerdings gibt es starke Unterschiede in der Verarbeitung. Während manches ein eindeutiger Fortschritt ist, wie die weitgehende Eliminierung des Mutterkorns aus dem Nahrungsgetreide, so sind andere Entwicklungen nicht so eindeutig positiv. Ein großer Teil des Getreides wird heute nicht mehr im naturbelassenen Zustand, als Vollkorn, sondern als ausgemahlenes Mehl konsumiert. Das Getreide wird beim Mahlen nicht nur zerkleinert, sondern auch ausgesiebt. Durch diesen Vorgang, der so erst seit ca. 200 Jahren möglich ist, werden nicht nur die Backeigenschaften des Mehls verbessert, sondern auch Nährstoffe und Ballaststoffe entfernt. Aus dem gesunden Naturprodukt wird auf diese Weise ein reiner Kalorienlieferant. Während das ausgemahlene Mehl zur Zeit seiner Erfindung ein Luxusprodukt für Reiche war, ist es heute der Standard. Aus den Eigenschaften heutiger Getreideprodukte zu schließen, dass Getreide generell ungesund oder ein Dickmacher wäre, greift also unter Umständen zu kurz.

Seit etwa 200 Jahren wird Zucker nicht mehr nur aus Zuckerrohr, sondern zunehmend auch aus Zuckerrüben hergestellt, ist also überall billig als heimisches Produkt zu haben. Durch die industrielle Verwertung ist Zucker heute kein Luxusgut mehr, sondern ein billiges Massenprodukt. Was früher Privilegierte zu besonderen Gelegenheiten genossen haben, isst heute fast jeder jeden Tag, völlig selbstverständlich.

Durch die Erschließung neuer Anbaugebiete und industrieller Methoden der Ölgewinnung gibt es heute viele billige Speiseöle. Was früher ein kostbares Luxusgut war, ist heute billige, oft qualitativ minderwertige Massenware.

Durch die Erfindung künstlicher Düngemittel stieg der landwirtschaftliche Ertrag vor allem im 20. Jahrhundert stark an. Zum ersten Mal ist genug für alle da, nur mit der Verteilung hapert es noch. Viele leben also tatsächlich im Überfluss, auch das ist neu.

Nahrungsmittel werden heute zu einem großen Teil industriell hergestellt und verarbeitet. Dabei werden Methoden und Zutaten verwendet, die erst seit kurzem bekannt sind. Zum Beispiel ist Glukosesirup ein Produkt, das in der Natur nicht vorkommt, das aber heute in fast allen industriell hergestellten Nahrungsmitteln enthalten ist. Viele neuartige Lebensmittel sind Mischungen aus billigen, industriell gewonnenen Fetten und Glukosesirup, die mit diversen Zusatzstoffen ansehnlich und wohlschmeckend gestaltet werden, deren Nährwert aber nichtsdestotrotz gegen Null geht. Heutige Nahrungsmittel sind mit einer Vielzahl an Zusatzstoffen angereichert, deren vollständige Wirkungen zumindest öffentlich nicht bekannt sind. Vom Glutamat ist bekannt, dass es den Appetit anregt, eine Präferenz für mit Glutamat gewürzte Speisen erzeugt.

Die heutige Lebensweise unterscheidet sich aber nicht nur im Angebot an Nahrungsmitteln und in der Ernährung von der unserer Vorfahren.

Im Gegensatz zu allen früheren Zeiten verbringt heute ein Großteil der Menschheit den größten Teil des Tages, sogar ihres Lebens, im Sitzen. Das ist ganz neu, das gab es noch nie. Es führt zu einer deutlichen Reduktion des Energiebedarfs und könnte deshalb durchaus mit dem Übergewicht zusammenhängen. Sowohl Jäger und Sammler als auch die frühen Ackerbauern hatten wenig Gelegenheit zum passiven Herumsitzen.

Durch starke Automatisierung gibt es heute fast keine Tätigkeiten mehr, die Muskelkraft und Fitness erfordern. Dadurch haben die Menschen einen geringen Energiebedarf. Das Bewusstsein für eine ganz normale körperliche Anstrengung ändert sich. Viele empfinden einen halbstündigen Spaziergang als Sport. Unsere steinzeitlichen Vorfahren waren dagegen den ganzen Tag auf den Beinen, haben jeden Tag viele Kilometer zurückgelegt, dabei ihre Kinder und oft noch den ganzen Hausrat getragen. Bis ins 19. Jahrhundert war zu Fuß gehen die übliche Fortbewegungsart.

Essen ist heute allgegenwärtig. Egal wohin man geht, egal was man tut, ständig wird man mit Essen, mit Essensangeboten, Essensgerüchen und Werbung für Essen konfrontiert. Es ist noch nicht lange her, dass Essen auf der Straße als unanständig angesehen wurde. Heute ist es selbstverständlich.

Gleichzeitig haben die Menschen heute immer weniger Zeit fürs Essen, die Essensvorbereitung und das Einnehmen der Mahlzeiten. Viele merken nicht, dass die vorgegebenen Packungsgrößen und Portionen zu groß sind, essen in der Hektik über die Sättigung hinaus. Unsere Vorfahren, nicht nur die steinzeitlichen, waren den ganzen Tag über damit beschäftigt, das Essen aufzutreiben.

Die heutige Lebensweise führt in vielen Fällen zu Stress, Frustration, Einsamkeit, der ganzen Palette negativer Emotionen, ohne wirkliche Möglichkeit, daran etwas zu ändern. Viele benutzen Essen als emotionalen Ausgleich, essen also nicht nur, um satt zu werden und ihren Energiebedarf zu decken, sondern um sich für das Durchstehen der unangenehmen Situationen zu belohnen. Unsere Vorfahren hatten zu einem solchen Verhalten schon deshalb keine Gelegenheit, weil es gar nicht genügend Lebensmittel gab.

Warum sind jetzt so viele zu dick?

Wahrscheinlich wird keiner der aufgeführten Punkte ausreichen, um zu erklären, warum so viele so dick sind. Aber jeder einzelne Aspekt erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass ein paar Menschen ein bisschen mehr wiegen werden. Es summiert sich. Und es ist keineswegs gesagt, dass die aufgezählte Liste vollständig ist. Vielleicht sind die entscheidenden Punkte noch gar nicht bekannt. Das Problem zu verkürzen auf die Tatsache, dass wir uns heute nicht mehr steinzeitlich ernähren, scheint jedenfalls nicht ausreichend zu sein.

In jedem Fall bleibt als Tatsache, dass unsere Vorfahren nicht nur in der Steinzeit, sondern bis vor eher wenigen Jahren keine Probleme hatten, Übergewicht zu vermeiden. Man muss also keineswegs bis in die Steinzeit zurück, um Ernährungs- und Lebensweisen zu finden, die mit einem gesunden Körpergewicht einhergehen sollten. Auch nach dem Ende der Steinzeit scheint es den meisten Menschen gelungen zu sein, sich so zu ernähren, dass ihr Körpergewicht kein Problem war. Ob sich das in der heutigen Zeit immer realisieren lässt, ist eine andere Frage. Vom Tisch sein sollte auch die gängige Überzeugung, dass jeder einzelne Übergewichtige selbst schuld an seiner Misere ist. So einfach ist es nicht, dazu gibt es zuviele alternative Erklärungsansätze.

Auch durch die Simulation einer steinzeitlichen Ernährung wird man jedenfalls kaum alle Probleme mit einem Schlag lösen können. Es sei denn, man wird wirklich konsequent und fängt jetzt an, jeden Regenwurm, von dem man sich ab sofort ernähren wird, einzeln mit den Fingern aus dem Boden zu graben. Dann noch schnell das Holz für das Feuer zusammensuchen und schon lässt sich die Gewichtsabnahme kaum mehr vermeiden.

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Beitragsbild: MaraZe/Shutterstock