Gewicht und Gesellschaft – Abnehmen ist mehr als ein Privatproblem

Gewicht und Gesellschaft - Dicke werden ausgegrenzt, dabei sind so viele zu dick
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6 Minuten
Astrid Kurbjuweit

Wer zu dick ist oder zu dick zu sein glaubt, neigt dazu, sich selbst die Schuld daran zu geben. Man hätte ja weniger essen können, dann wäre das nicht passiert. Auch wenn man es letzten Endes immer selbst ist, der sich die Häppchen in den Mund schiebt, so sind die Gründe für dieses Verhalten keineswegs immer so privat, wie es scheinen könnte. Sehr viele wiegen zuviel, und es gibt viele Gemeinsamkeiten zwischen ihnen, was die Lebensumstände und die nicht immer selbst gewählten Notwendigkeiten angeht, unter denen sie durchs Leben gehen.

Grundsätzlich ist Schlank sein heute schwieriger als noch vor ein paar Jahrzehnten. Von wenigen Ausnahmen abgesehen leben wir zumindest in den Industrienationen alle im Überfluss, nichts ist einfacher als zuviel zu essen. Im Durchschnitt werden 10 % des Einkommens für Lebensmittel ausgegeben, nicht mehr wie früher 50 % oder sogar 90 %. Da kommt es für die meisten auf eine Tafel Schokolade mehr oder weniger einfach nicht an. Lebensmittel sind grundsätzlich immer verfügbar, niemand braucht Angst vor Missernten und Hungersnöten zu haben. Es gibt keine äußere Begrenzung der Menge der verfügbaren Nahrungsmittel mehr.

Das bedeutet, dass heute jeder selbst dafür verantwortlich ist, wieviel und was er isst. Was früher von der Notwendigkeit diktiert wurde, ist heute Gegenstand einer freien Entscheidung. Diese Freiheit ist in der Entwicklung der Menschheit neu. Dafür sind wir garnicht gemacht.

Wir sind angepasst daran, mit einem Mangel an Nahrung zurechtzukommen. Ohne diese Fähigkeit wäre die Menschheit schon vor Jahrtausenden ausgestorben. Es ist zu erwarten, dass nicht jeder mit der neuen, unerwarteten Freiheit gut zurechtkommt. Wir stehen vor einer riesigen Auswahl an Nahrungsmitteln, zwischen denen wir uns entscheiden können, aber eben auch entscheiden müssen. Unser evolutionäres Erbe sagt uns, dass wir besser alles nehmen sollten, denn wer weiß, wann es wieder etwas geben wird. Die Realität unserer Lebensumstände ist aber so, dass es ständig wieder unbegrenzt etwas gibt. Im Ergebnis essen wir zuviel.

Hinzu kommt, dass wir, ebenfalls bedingt durch unsere Anpassung an den Mangel, eine Präferenz für Kalorienbomben haben. Das Süße und Fettige schmeckt uns einfach ganz besonders gut.

Und wir leben heute ganz anders als noch unsere Großeltern. Kaum jemand arbeitet noch körperlich, sitzen ist unsere Hauptbeschäftigung. Dafür stehen wir ständig unter Stress, unter Anspannung. Unser Energiebedarf ist viel niedriger als der unserer Vorfahren, und vor lauter Stress haben wir das Gefühl für unsere Bedürfnisse, für Hunger und Sattsein verloren. Gleichzeitig leben viele in einem Gefühl des Unausgefülltseins, der Unterforderung, allgemeiner Sinnlosigkeit und der Langeweile.

Da ist es besonders misslich, dass wir umgeben sind von Versuchungen. Jedes Geschäft, jeder Supermarkt ist eine ausgeklügelte Anordnung von Verführungen. In der Werbeindustrie arbeiten Profis, oft merken wir garnicht mehr, dass wir beeinflusst werden. Dass wir eben nicht frei entscheiden, was und wieviel wir essen möchten. Fast jede Packung ist zu groß. Egal, wo wir hingehen, wir sind umgeben von der Aufforderung zu essen. An jeder Ecke riecht es verführerisch, man redet uns ein, wir müssten im Stehen, auf der Straße essen, was-auch-immer-to-go, oder der Hunger zwischendurch. Kalorienbomben und Ungesundes gibt es überall im Vorübergehen, während gutes, gesundes Essen schwerer, mit mehr Aufwand, aufzutreiben ist. Ständiges Essen ist nicht nur gesellschaftsfähig geworden, es ist geradezu eine Mode. Während unsere Großeltern das Essen auf der Straße noch als unanständig angesehen haben, ist es für uns das Zeichen eines modernen, angesagten Lebensstils.

Um der Orientierungslosigkeit, die aus dem ständigen Überfluss resultiert, entgegenzuwirken, haben wir eine Vielzahl von Ernährungsformen und Diäten erfunden. Vegetarisch, vegan, kohlenhydratfrei, low-carb, low-fat, es gibt eine ellenlange Liste, die ständig länger wird. Hinter jeder Ernährungsform steht eine ganze Ideologie, die scheinbar oder vielleicht sogar tatsächlich Sinn vermittelt.

Es wird behauptet, dass die Versorgung mit diversen Nährstoffen durch eine normale Ernährung nicht oder nur schwer möglich sei, so dass Nahrungsergänzung unbedingt notwendig sein soll. Jeder Ernährungsexperte und selbsternannte Ernährungsguru kennt die einzig seeligmachende Ernährungsweise, an die sich unbedingt alle halten müssen. In der Folge der Orientierungslosigkeit findet sich also nur noch mehr davon, noch mehr Orientierungslosigkeit. Ob man vor der Frage steht, für welches Lebensmittel man sich entscheiden soll oder vor der Frage, für welche Ernährungsform, ist im Prinzip dasselbe. Es fehlt an echten stichhaltigen Kriterien für eine zuverlässige Entscheidung. Viele fühlen sich hin und her geworfen, vertreten heute entschieden die eine Richtung und morgen die nächste.

Ein paar Misslichkeiten machen die Sache noch schlimmer. Ein Großteil der schnellen Zwischendurch-Angebote ist süß. Es macht im Prinzip ja nichts, mal was Süßes zu essen, aber Süßes macht nicht satt, sondern hungrig. So dass man schnell noch mehr Süßes isst, denn es ist ja verfügbar. In der Folge verliert man das Gefühl für Hunger und Sattsein, für die Angemessenheit der Nahrungsmittel. Und ist dadurch nur noch mehr den Behauptungen der Ernährungsgurus ausgeliefert.

Die Lebensmittelindustrie hat ein Interesse daran, dass wir möglichst viel essen. Sie möchte uns möglichst viele, möglichst billige Nahrungsmittel möglichst teuer verkaufen. Deshalb sind nicht nur so viele Packungen zu groß, deshalb ist auch die Zusammensetzung der Nahrungsmittel so, dass sie möglichst Appetit auf mehr machen. Zusatzstoffe wie Glutamat, die fast überall drin sind, sorgen dafür, dass wir mehr essen als wir eigentlich wollten und dass wir nicht merken, dass wir statt gesunder Lebensmittel nur Farb- und Aromastoffe, nur eine kalorienreiche Illusion zu uns nehmen.

Nicht unterschätzen sollte man auch den Einfluss des Schönheitsideals. Jeder ist mit der Forderung nach Schlanksein konfrontiert. Normal sein reicht nicht aus, man muss heute nach Möglichkeit weniger wiegen und eine kleinere Kleidergröße tragen als die Natur vorgesehen hat. Ganz viele Normalgewichtige mit völlig unauffälliger Figur meinen deshalb, sie wären zu dick. Das haben sie sich nicht alle selbst ausgedacht, das ist eine Folge des gesellschaftlich akzeptierten Schönheitsideals. Übergewicht ist kein objektiv gegebener Zustand, sondern wird im gesellschaftlichen Konsens definiert. Es ist eine Frage der Sichtweise, wer alles als übergewichtig angesehen wird. Heute wird Untergewicht als schön angesehen, auch wenn es erste zaghafte Versuche einer Gegenbewegung gibt.

Deshalb versuchen nicht nur Übergewichtige, sondern auch Normalgewichtige, ihr Gewicht zu reduzieren, oft mit extremen Diäten. Solche Diäten und Abnehmversuche machen aber höchstens vorübergehend schlank, auf Dauer machen sie dick.

Es gibt einen Trend zur Selbstoptimierung. Das ist die Einstellung, dass man so, wie man ist, erstmal nicht in Ordnung ist, dass man an sich arbeiten muss, an jedem Aspekt seines Selbst etwas verbessern sollte. Wer sich diesem Trend anschließt, sieht sich selbst natürlich als defizitär, als unzulänglich an. Dieses Gefühl des grundsätzlich-nicht-gut-genug-seins entsteht natürlich auch durch die Beeinflussung von außen, es kommt nicht aus dem Individuum selbst.

Die verbreitete Diskriminierung tatsächlich Übergewichtiger trägt auch dazu bei, dass diese nicht schlanker, sondern eher noch dicker werden. Denn Ausgrenzung und Ablehnung schaffen Frust und Stress, die in der Folge wieder dazu führen, dass man noch weniger weiss, was die richtige Nahrung und die richtige Nahrungsmenge für einen ist.

Was kann man tun?

Der erste Schritt, am angesprochenen Zustand etwas zu ändern ist immer, sich drüber klar zu werden, dass es vielfältige Einflussfaktoren gibt. Natürlich gibt es einen Anteil eigener „Schuld“, aber es gibt eben auch eine große Zahl von äußeren Einflüssen. Niemand lebt für sich, alle sind beeinflusst von dem, was die anderen denken und tun. Sich klar zu werden über die unterschiedlichen Einflussfaktoren, ist immer der erste Schritt. Denn nur wenn man weiß, woran man ist, kann man wirklich etwas ändern. Wer Einflüsse ignoriert, kann sich nicht gegen sie wehren.

Dazu gehört eine ehrliche Antwort auf die Frage, ob man wirklich zu dick ist oder ob man nicht vielleicht völlig normalgewichtig ist, nur eben nicht dem untergewichtigen Schönheitsideal entspricht. Die meisten, die sich heute zu dick fühlen, wären zum Beispiel zur Zeit des Barock bewunderte Schönheiten gewesen. Noch in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurden normalgewichtige Frauen als schön angesehen, die heute als zu dick gelten. Wer selbstbewusst dazu steht, eben so zu sein, wie er eben ist, der hat schon viel gewonnen, kann sich viele unsinnige Abnehmversuche sparen. Und damit letzten Endes tatsächlichem Übergewicht aus dem Weg gehen.

Sich klar zu werden, dass das, was wir essen, auch nicht immer unsere freie Entscheidung ist, sondern vom Angebot und nicht zuletzt auch von der Werbung und der Industrie beeinflusst ist, ist auch ein wichtiger Schritt. Es hilft, sich zu wehren, sich zu informieren, herauszufinden, was wirklich gesunde Lebensmittel sind, auch dazu zu stehen, was man selbst wirklich essen möchte. Wer zum Beispiel weiß, dass Glutamat seinen Appetit beeinflusst, der kann sich diesem Einfluss entgegenstellen, ist ihm nicht mehr ausgeliefert.

Wer sich drüber klar wird, dass es die Lust auf fast food erst gibt, seit es fast food gibt, kann erkennen, dass es nicht nur eigenes Versagen ist, wenn er mal wieder schwach geworden ist.

Wer sich bewusst macht, dass in den Packungen fast immer zuviel drin ist, auf den Tellern fast immer zuviel drauf ist, der kann einfacher für sich entscheiden, wieviel er wirklich essen möchte, kann dem Zwang zum Aufessen besser entgegenstehen.

Kurz kann man sagen, wer dazu steht, wie er selbst eben ist, wer das tut, was er selbst wirklich tun möchte, wer sich über die Versuche der Beeinflussung im Klaren ist, der kann erst wirklich frei entscheiden und ist dann erst wirklich selbst schuld an allem. Auch an dem Guten und Positiven.

1 Kommentar

  1. Ganz meine Meinung!
    Ich denke, dass ist wohl die Aufgabe in unserer Zeit (und in unseren Industrieländern), die Nahrung sorgfältig auszuwählen und nicht alles essen, was gerade mal da ist.
    Meine Oma hatte noch 2 Weltkriege miterlebt und sogar das Petersiliensträußchen auf den Kartoffeln mitgegessen, weil sie da noch ganz andere Zeiten vor Augen gehabt hat. Aber heute – oder sollte man sagen: „Im Moment“? – sind diese Zeiten vorbei.
    LG
    Sabienes

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Beitragsbild: Prazis Images/Shutterstock